Donnerstag, 17. November 2016

Wieviel „Erziehung“ braucht mein Kind?

Fotografie: pexels



 In meinen Blogartikeln schreibe ich vom bedürfnis- und beziehungsorientierten Umgang mit Kindern bzw. der ganzen Familie. Doch was bedeutet das? Wieso vertrete ich diese Form des Zusammenlebens und heißt das, das „Erziehen“ nicht nötig ist? Die letzte Frage möchte ich gern mit `Ja` beantworten, auch wenn ich selbst noch lerne und im Alltag gern mal in alte Erziehungsmuster zurückfalle.

Geschichtlich gesehen war „Erziehung“ schon eine Errungenschaft für sich: nämlich die Erkenntnis, dass Kinder nicht einfach kleine Erwachsene sind, sondern besonderer Pflege und Zuwendung bedürfen. Aus diesem Gedanken heraus hat sich der Umgang mit Kindern von einem eher zu Vernachlässigung neigendem Verhalten hin zu verschiedenen Überlegungen, wie man Kinder zu guten Erwachsenen formen kann, entwickelt. Verschiedene Theorien kamen auf, beispielsweise auch die „tabula rasa“. Hier nahm man an, das Kind sei ein unbeschriebenes Blatt, welches man nach seinen Vorstellungen formen kann. Doch man stellte fest, dass dies nicht möglich war; die Kinder entwickelten sich trotz gleicher Vorgehensweise dennoch unterschiedlich. Natürlich! Heute weiß man, dass Gene, Temperament und viele äußere Einflüsse nicht steuerbar sind.

Zudem wurden im Laufe der Geschichte verschiedene Arten der Züchtigung (häufig in Form von Gewalt) angewendet. Zum Glück ist das heute gesetzlich verboten und die wissenschaftliche Erkenntnis da, das Gewalt – egal ob psychisch oder psychisch- schädlich ist. Mit dieser zunehmenden Erkenntnis versuchten nun viele Pädagogen mit anderen Methoden wie Strafen („Dann bekommst du kein Abendbrot.“ „Dann musst du eben nachsitzen.“) oder positiver Verstärkung (Lob: „Das hast du gut gemacht.“ oder Geschenke für Erreichtes) ihre Ziele zu erreichen. Trotzdem bleiben es die Ziele der Erwachsenen und damit wird immer nur die extrinsische Motivation („Ich mache das, damit ich gelobt werde oder damit ich keine Strafe bekomme“) angekurbelt.

Die innere Entwicklung des Kindes, die intrinsische (innere) Motivation sich zu entwickeln und zu lernen bleibt da außen vor. Erst mit der Reformpädagogik (Vertreter wie Maria Montessori, Janusz Korczak,  Célestin Freinet usw.) eröffnete sich eine neue Sichtweise auf Kinder. Ein neues Denken begann. Auch Forschungen zu Bindung und Bindungstypen gaben Anstoß sich über einen anderen Umgang mit Säuglingen und Kindern Gedanken zu machen und viele Weiterentwicklungen und Erkenntnisse im pädagogischen Bereich folgten. Auch Entwicklungspsychologenen wie Erikson, Piaget und Kohlberg machten deutlich: Kinder bringen alles mit. Sie wollen sich entwickeln. Nach einer geschafften Entwicklungsstufe folgt die nächste. Das Umdenken in Bezug auf Kinder ging weiter und Sozialwissenschaftler wie Alice Miller, Ekkehard von Braunmühl, Jean Liedloff beschäftigten sich mit dem Aufwachsen von Kindern ohne herkömmliche Erziehung.

Der afrikanische Spruch: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ fasst die Erkenntnisse für mich ganz gut zusammen. Wenn die Bezugspersonen es zulassen (können) und eine geeignete kindgerechte Umgebung schaffen, dann entwickeln sich Kinder umfassend und zeigen eine ganz eigene Motivation zu lernen und die Welt verstehen zu wollen. Es braucht keiner Verschiebung auf äußere Anreize wie Lob oder Geschenke. Dafür braucht es aber ein Loslassen (der eigenen Ziele für das Kind) und Vertrauen (in die kindliche Entwicklung). Das heißt wiederum, dass wir Erwachsenen nicht an unseren Kindern arbeiten müssen, sondern an uns selbst: Welche Ziele haben wir für unsere Kinder? Welchen Zeitplan? Welche unbewussten Wünsche oder auch Präsentierwünsche gegenüber der Umwelt (Ich bin eine tolle Mutter, wenn mein Kind x kann. – Nein, auch sonst! J )?  

Was heißt das jetzt konkret? Ich bin über viele Stationen und Entwicklungen dahin gekommen, wo ich heute meine pädagogischen Überzeugungen sehe. Zusammenfassend ist es letztlich ein Leitsatz geworden, der mich im Alltag begleitet: Jede Familie kennt sich und ihre Kinder am besten und sollte gemeinsam Wege finden, wie - ohne Gewalt und Machtkämpfe - ein liebevolles Zuhause und ein wertschätzender Umgang gestaltet werden kann, egal was die „Umwelt“ darüber denkt. Den letzten Teil finde ich am schwersten: das heißt nämlich andere Meinungen ausblenden zu können und ebenfalls nicht über andere zu urteilen! Leider sind wir psychologisch und gesellschaftlich sehr darauf gepolt, da habe ich auch noch ein gutes Stück Arbeit vor mir.

Auf meinem Weg seit der Studienzeit haben mich viele Bücher, Blogs und Menschen begleitet. Als werdende Mama ermunterte mich als erstes das Buch „Hebammensprechstunde“ von Ingeborg Stadelmann dazu auf mich und mein Kind zu hören. Tragen mit Tragetuch war für mich schon lange klar, aber auch dies eröffnete mir den weiteren Weg zu einem bedürfnisorientiertem Umgang mit meinem Herzmädchen (Stillen, Tragen, Familienbetten nach Bedarf und ohne Angst zu Verwöhnen) und anschließend zu vielen anderen Themen wie Baby led Weaning, ständiges Loben weglassen, Entwicklungsziele als Leitfaden betrachten, Ja-Umgebung schaffen, kreative Lösungen finden und Meckern sein lassen. Schritt für Schritt wuchs ich in diesen Umgang hinein und vertraute meinem Herzmädchen voll und ganz. Mit ihrer zunehmenden Autonomie und eigenen Meinung ist es nicht unbedingt leichter geworden. Hier liegen öfter Stolpersteine, so dass ich doch anfange zu meckern, zu erziehen und meine Ziele durchzusetzen, aber meist meldet sich mein Verstand doch recht schnell zurück und ich schaue nach neuen Wegen.

Also Ja, wir brauchen „Erziehung“ (deswegen auch immer in Klammern bei mir) im klassischen Sinne nicht. Ich sage im klassischen Sinne, da man inzwischen den Begriff der „beziehungsorientierten Erziehung“ öfter liest und es meist den oben beschriebenen Weg meint. Vertreter wie Jesper Juul, Katharina Saalfrank, Alfie Kohn fordern bedingungslose Liebe und Vertrauen mit Blick auf entwicklungspsychologische Bedürfnisse von Kindern. Es ist nicht nötig festgeschriebenen Regeln und Vorgaben nachzujagen. Viel sinnvoller ist es gemeinsam als Familie zu schauen, was wichtig ist, welche Bedürfnisse gerade vorne anstehen und wie man auf Augenhöhe (also ohne das Machtgefälle Erwachsener-Kind) vertrauensvolle Wege gehen kann.

Denn eines ist sicher: Strafen, Manipulation und Gewalt führen zu einem Abbruch der Beziehung. Kinder werden eher versuchen ihre eigenen Ziele auf anderem Weg (wenn nötig mittels Geheimnissen und Lügen oder innerer Abspaltung) zu erfüllen. Sie werden nicht versuchen ihre Wünsche mit uns zu teilen und zu erfüllen; sie beginnen uns als Eltern zu misstrauen und Angst zu haben, wir könnten verbieten oder strafen. Wissen sie aber, dass sie alles mit uns besprechen können und dann ein gemeinsamer Weg gefunden wird, werden sie sich vertrauensvoll an uns wenden. Egal was ist, weil sie nicht die Konsequenz fürchten müssen.

Dieses Vertrauen in unsere Beziehungen ist unsere größte Anlage, denn Kinder brauchen uns, sie lieben uns und wollen kooperieren. Ohne dass wir es verdeutlichen müssen, wissen sie, dass sie von uns abhängig sind. Dafür braucht es keine harten Worte, Konsequenz a la „damit sie uns nicht auf der Nase herum tanzen“ oder Drohungen („Dann gehe ich eben allein nach Hause.“). Das schadet der Beziehung zu unserem Kind und ihrem kindlichen Streben nach Kooperation.

Zudem habe ich unser größtes „Ass im Ärmel“ noch gar nicht genannt: das Vorleben. Kinder lernen durch Beobachtung und Nachahmung am einfachsten und effektivsten von uns. Wir können viel über Höflichkeit erzählen, wenn wir sie selbst nicht leben, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass unser Kind freundlich mit seinen Mitmenschen umgeht. Nehmen wir unser Kind ernst und akzeptieren seine Grenzen, wird es auch uns ernst nehmen und unsere Grenzen akzeptieren.

Schon Friedrich Fröbel hat die zwei grundlegenden Pfeiler im Zusammenleben mit Kindern treffend beschrieben: "Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts" und damit hat er, wie ich finde, sehr recht.


Eure Anne


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Quellenverzeichnis

Karin und Klaus Grossmann: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit
> siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie

Herbert Gudjons: Pädagogisches Grundwissen

Jesper Juul: verschiedene Bücher, Kolumne bei standart.at

Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit

Remo H. Largo: Babyjahre

Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

Katharina Saalfrank: Was unsere Kinder brauchen: 7 Werte für eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung

Ingeborg Stadelmann: Die Hebammensprechstunde

Martin R. Textor: Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen als Herausforderung an Familie und Schule (http://www.kindergartenpaedagogik.de/25.html)

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