Fotografie: Team Johannstadthalle |
#artgerechtdresden
Es ist Mittwoch früher Abend und ich möchte zur Lesung von
„artgerecht: Das andere Baby-Buch“ mit Nicola Schmidt fahren. Ich ziehe meine
Jacke an und nehme meine Tasche. Doch vor der Tür steht das Herzmädchen und
möchte unbedingt mit. Die Uhr tickt, es ist freie Platzwahl in der
Johannstadthalle, ich muss also wirklich los. Alle spaßigen Verlockungen mit
Papa helfen nicht, sie will mit.
Na dann also zu dritt, mit nur einer Eintrittskarte. Papa
schmiert noch schnell Schnitten für unterwegs (die später gegen frische Brezeln
nicht ankommen) und dann geht es ganz artgerecht los: Mama, Papa, Kleinkind.
Für uns nicht ungewohnt, gesellschaftliche Standards zu ignorieren und dem
Bedürfnis unseres Kindes zu folgen.
Als ich mit dem Herzmädchen in die Halle gehe, begegnet mir
gleich ein weiteres Elternpaar mit Kleinkind und einem weiteren älteren Kind,
welches schon über Papas Schulter gelehnt schläft. Ich freue mich und denke:
„Wir sind also nicht die einzigen mit Kind.“ Während mein Mann noch das vergessene
Tragetuch holen fährt, schauen wir uns schon mal um und suchen uns hinten am
Rand einen Platz – „zum Rumrennen“, denke ich.
In der Halle sind viele Stühle aufgebaut und schon zu zwei
Dritteln besetzt, vorn ist eine kleine Bühne mit gemütlichen roten Sesseln.
Hinten in der Halle ist viel Platz, es gibt einen Essensstand und auch drei
Fachstände (Einfach Eltern Dresden, angekuschelt mit Trage- und Stoffwindelinfos und einem Bücherstand mit den Büchern von Nicola Schmidt). Es herrscht eine murmelnde, angenehme
Atmosphäre und alle Stühle sind liebevoll mit Infomaterial rund um „artgerechtes“
Familienleben versehen.
Pünktlich geht es los: Nicola Schmidt, drei sympathische
Organisatorinnen der Veranstaltung von Einfach Eltern Dresden und Josephine
Schütze von angekuschelt betreten die Bühne und begrüßen die Gäste. Das
Programm des Abends, mit Buchvorstellung und Fragerunde, wird vorgestellt und
alle Kinder werden begrüßt und mir damit die letzte Sorge, dass diese hier
jemand als unangebracht finden könnte, genommen. Nicola betont, dass Kinder
willkommen sind und auch gern laut sein und rumrennen dürfen.
Nun beginnt die einstündige Lesung, die mehr ein
unterhaltsamer, erfrischender, lustiger, aber zugleich informativer Auftritt
wird. Die artgerecht-Fachfrau beginnt damit, den Zuschauern zu berichten, wie
die Idee zu ihrem Buch entstanden ist. Sie schildert sehr plastisch und
mitreißend, warum sie bis zum Schluss ihrer Schwangerschaft keine Babysachen
gekauft hat und wie sie dann - bis zum Schluss durch die Auskunft der
Krankenhaushebamme überzeugt von Übungswehen - ihr Kind gerade noch so in der
Hebammenpraxis zur Welt gebracht hat.
Dieser spontane und etwas unvorbereitete Übergang in die
Elternschaft ohne Unmengen an Windeln, Bodys, Bettchen und Schnullern hat ihr
verdeutlicht, mit wie wenig Babys zufrieden sind. Ihrem Instinkt folgend,
stillte und trug sie ihren kleinen Sohnemann nach Bedarf und konnte der etwas
irritierten Umgebung nur die Zufriedenheit aller mit diesem Vorgehen
entgegensetzen. So begann ihre Suche nach Fachwissen, Erkenntnissen und Vertretern,
die diese bedürfnisorientierte Sicht teilen.
Diese fand sie vorwiegend in den USA und konnte sogar ihren
Mann von einer Reise dorthin überzeugen. Denn sie wollte sich unbedingt persönlich
davon überzeugen, dass das keine „Spinner“ sind mit denen sie ihre Meinung zum
Umgang mit Kindern teilte. Also flogen sie über den großen Teich und begegneten
vielen ganz vernünftigen und netten Menschen und so stellte sie sich immer
öfter die Frage, warum darüber keiner schreibt, warum Eltern von all dem kaum
etwas wissen. - Die Buchidee war geboren.
Während Nicola all dies erzählt, sitzt das Herzmädchen neben
mir und macht sich wie Mama ebenfalls „Notizen zum Vortrag“ oder schaut sich
die ausgelegten Infoflyer an. Einfach bei mir zu sein, scheint ihr zu reichen,
auch wenn die Veranstaltung kein wirkliches Interesse bei ihr weckt.
Nicola stellt indes die verschiedenen Kapitel ihres Buches
vor und legt dabei ihren Schwerpunkt auf das Thema Menschenbabys verstehen. Sie
erklärt, dass unsere Kinder perfekte kleine Frühgeburten sind, aber laut Wissenschaftlern
eigentlich noch zwischen 9 und 21 Monaten im Bauch der Mama bleiben müssten.
Durch unsere Weiterentwicklung zum aufrecht gehenden Menschen, haben sich aber
unsere Becken so verkleinert, dass Menschenbabys dann auf die Welt kommen, wenn
sie gerade noch so durch die Beckenöffnung passen. Unsere Babys brauchen also besonders
viel Zuwendung und Fürsorge, da sie allein nicht überlebensfähig wären. Und aus
genau diesem Grund haben Babys auch Schreien als Überlebensstrategie entwickelt
und nicht um ihr Umfeld von Anfang an auf ihre Bedürfnisse hin zu erziehen –
sie wollen einfach nicht irgendwo im Busch vergessen werden!
Nicola Schmidt plädiert daher für Stillen, Tragen,
Familienbett, natürliche Geburt und vor allem für (Fach-) Verständnis für
Kinder. Das noch unausgereifte Nervensystem des Babys braucht viel
Unterstützung und beispielsweise beim Ein- und Weiterschlafen die Co-Regulation
durch uns Eltern (Schunkeln, Stillen, Da-sein, etc.).
Die Buchautorin ist sich bewusst, dass artgerechtes
Aufwachsen relativ anstrengend sein kann und in den ersten zwei Jahren einen
hohen Arbeitsaufwand bedeutet, aber zugleich so vieles vereinfacht (Muttermilch
muss nicht erwärmt werden, im Tragetuch ist das Kind überall dabei). Sie weist
aber auch darauf hin, dass „artgerechte Kinder“ zwischen dem 2. und 3.
Lebensjahr relativ pflegeleicht werden und der Arbeitsaufwand dann nach unten
geht. Bei „herkömmlich“ umsorgten Kindern, steige dann oft der Aufwand, da
eventuelle Bedürfnisse nun viel intensiver ausgedrückt werden oder auch
Entwicklungsdefizite durch Ergotherapie behandelt werden müssen. Warum also
nicht die Arbeit investieren, wenn Kinder ohnehin arbeitsintensiv sind und
unser Hormonhaushalt noch absolut auf mütterliche und väterliche Fürsorge
ausgerichtet ist?
Sie bestärkt die Eltern im Saal darin, auf ihren Instinkt zu
hören, Kindern zu vertrauen und gelassen zu bleiben, denn alles ist eine Phase.
Jedes ungewöhnliche und für uns Eltern herausfordernde Verhalten tritt in einer
bestimmten Phase auf und geht im Normalfall von selbst wieder vorbei. Zudem bestärkt
sie die Männer darin, ihre Frauen beim Stillen zu unterstützen. Wie das geht? In
Studien hat man herausgefunden, dass Frauen länger stillen, wenn die Väter dies
unterstützen und diese Entscheidung mittragen. Außerdem freuen sich stillende
Frauen ganz besonders über Trinken, Essen und Zuwendung.
Der Vortragsteil endet, mein Mann ist mit dem Tragetuch da
und so beginne ich während die Fragerunde startet, mit dem Herzmädchen hinten
im Tragetuch ein paar Schritte hin- und herzulaufen. Das ist doch mal
artgerechte Abendgestaltung ;)
Einige Mütter trauen sich und stellen Fragen zum Buch oder
auch zu Situationen zu Hause und Nicola beantwortet sie sehr ausführlich und
umsichtig. Bei jeder persönlichen Frage hinterfragt sie Alter,
Entwicklungsstand, aktuelle Entwicklungssprünge, Situation der Eltern und gibt
Hinweise dazu, dass Kinder viel ausprobieren möchten und letztlich unsere
sozialen Regeln kennenlernen wollen. Bei der Beantwortung bringt sie auch immer
wieder Beispiele aus dem Alltag der artgerecht-Camps (welche sie durchführt) mit ein und betont die
Wichtigkeit, sich trotz modernen Stadtlebens einen Clan, Mütterkontakte,
Unterstützung - ein Netzwerk aufzubauen. Denn artgerechte Kindererziehung sollte
eigentlich nicht allein zu Hause stattfinden. Artgerecht wäre es, wenn Mütter und
Kinder zusammen ihren Tag verbringen und so „Erziehung“ wirklich durch Vorleben
des Erwachsenenlebens und unter den Kindern stattfinden würde.
Die Runde schließt mit einem großen Applaus und zufriedenen
Gesichtern, von denen sich viele im Anschluss bei Nicola am Büchertisch
wiederfinden.
Auch wir sind zufrieden mit dem Abend, der nun ein bisschen
zum Familienausflug wurde. Besonders die entspannte und familiennahe Atmosphäre, die von den Organisatoren und
Nicola während der Lesung geschaffen wurde, wird mir in Erinnerung bleiben -
und dass es sich immer wieder lohnt, die eigenen Pläne zugunsten von
Kinderlachen über den Haufen zu werfen.
Ich wünsche euch alle noch eine schöne Woche und hoffe, dass
meine eigene Leseneugier auf das artgerecht-Baby-Buch* auch auf euch übergesprungen ist!
Eure Anne
PS: Wenn euch mein Artikel gefallen hat, dann freue ich mich über Teilen udn Liken :)
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